FÜR NEUE MUSIK ZÜRICH
Archiv

ARCHIV



08.06.2007  20:00  Gare du Nord, Basel
09.06.2007  20:00  Radiostudio, Zürich

Werke von Luigi Nono

Polifonica – Monodia – Ritmica (1950)
6 strumenti e percussione (fl,cl,Bcl,sx,hn,pf,perc)

Risonanze erranti. Liederzyklus a Massimo Cacciari (1986)
Mezzosoprano, Flauto, Tuba, 5 Percussionisti e live electronics

„Hay que caminar“ soñando (1989)
2 Violini



ensemble für neue musik zürich

Hans-Peter Frehner Flöte
Lars Heusser Klarinette
Lanet Flores Bassklarinette
Raphael Camenisch Saxophon
Lorenz Raths Horn
Leo Bachmann Tuba
Lorenz Haas Schlagzeug
Raphael Christen Schlagzeug
Martin Lorenz Schlagzeug
Ivan Manzanilla Schlagzeug
Sebastian Hofmann Schlagzeug
Viktor Müller Klavier

Ariadne Daskalakis Violine
Sebastian Gottschick Violine


Jeannine Hirzel Mezzosopran
Johannes Harneit Leitung

Holger Stenschke Live Elektronik
Andreas Werner Aufnahme


Polifonica – Monodia – Ritmica (1951)
6 strumenti e percussione (fl,cl,Bcl,sx,hn,pf,perc)

Polyphonie von suchenden, wandernden Einzeltönen. Zu Beginn von Polifonica – Monodia - Ritmica ist jeder Ton „Echoton“, also Nachhall von etwas, das nicht mehr ist. Das Stück beginnt gleichsam mit seinem Ende. Es gibt kein „Anfangen“, es gibt nur ein Zögern: vorsichtiges Herantasten, kaum hörbares Auftauchen aus dem Nichts. So begann Nonos erstes grosses Ensemblestück, das erst 2001 – nach knapp fünfzig Jahren - in seiner Urfassung zu hören war. Der Dirigent Hermann Scherchen strich für die Uraufführung 1951 fast die Hälfte des Stücks; ein so gravierender Einschnitt, dass er anders als mit Zustimmung des Autors gar nicht zu denken ist.
Scherchens „Zu-lang-Verdikt“ erleichtert beide Teile, aus denen sich die „Polifonica“ zusammensetzt, je um ihren Kern, reduziert den ersten auf einen Prolog, den zweiten auf Zusammenfassung und Verdichtung. Der zweite Abschnitt, „Monodia“ wurde um die Hälfte seines Materials verkürzt. Nur die „Ritmica“ blieb erhalten wie sie war.
Jenseits der klaren Formzäsuren und Verdichtungen, die das Stück gliedern, vollziehen sich in der Urfassung alle Veränderungen schleichend: gleitende Uebergänge von Instrument zu Instrument in „Monodia“, unmerkliche Tempobeschleunigungen über lange Zeiträume hinweg in beiden Teilen der „Polifonica“; selbst die Uebergänge in die neuen Abschnitte, „Monodia“ und „Ritmica“, geschehen gleichsam unmerklich. Der ursprüngliche Formverlauf verleiht dem Ganzen den Charakter eines nach eigenen Gesetzen allmählich sich ausbreitenden Organismus. Die Proportionen werden deutlich: Die Polifonica“ mit ihren gross angelegten Entwicklungen ist eindeutig Hauptplatz, die „Monodia“ hingegen das Herzstück; Nonos erster „canto sospeso“, in der Bedeutung von „schwebend“.
Peter Hirsch aus Programm Musik-Fabrik NRW März 01

Risonanze erranti. Liederzyklus a Massimo Cacciari (1986)
Mezzosoprano, Flauto, Tuba, 5 Percussionisti e live electronics

Aus Vermutungen über “Risonanze erranti” von Jürg Stenzl:
Wer Ingeborg Bachmanns (1926-1973) späte Gedichte kennt und auch nur einen flüchtigen Blick auf jene Fragmente wirft, die Luigi Nono in seinem jüngsten Werk, “Risonanze erranti” verwendet hat, kann nur verständisnlos fragen: “Wie ist das möglich?”
Lyrik muss entweder exorbitant sein oder gar nicht. Das gehört zu ihrem Wesen.” (G.Benn). Wie aber kann ein Komponist exorbitante” Lyrik wie jene Ingeborg Bachmanns, in der keine Silbe überzählig ist, auf Exerpte reduzieren, sie buchstäblich zertrümmern? Kaum anders wird der Leser angesichts von Nonos “Blütenlese” aus sieben Gedichten von Herman Melville (1819-1891) reagieren.
Ein Komponist liest Texte im Hinblick auf sein Werk und Lyrikvertonung heisst, seit Schubert, auskomponieren dieser eigenen Lesung. Komponiert aber Luigi Nono wirklich wie Schubert, Wolf oder Schönberg seine Lyriktrümmer? Die Fragmentierung der Texte enthält bereits die – negative – Antwort.
Fragmente von Ingeborg Bachmann und Herman Melville also als blosses Sprachmaterial, Bruchstücke bedeutender Lyrik als Phoneme für Sänger? Die Antwort wird wiederum negativ ausfallen.
Wie die Hölderlin-Fragmente, welche Nono in die Partitur seines Streichquartetts mit der expliziten Anweisung, diese dürften in keinem Falle rezitiert werden, schrieb, stehen in “Risonanze erranti” die Worte in einem Doppelverhältnis zur Musik. Das den Dichtern und Komponisten Gemeinsame liegt ausserhalb des Werkes und bildet gleichzeitig dessen Herzstück. Die Lyrikfragmente sind im Werk und “Risonanze” desselben Werks.
Als “irrende Resonanz” trifft sich im Werk Ungleichzeitiges: Das 19. Jahrhundert des amerikanischen Bürgerkrieges (Melvilles Gedichte aus “Battle-Pieces”) und die Zeit nach Ingeborg Bachmanns “dreissigstem Jahr”. Aber auch, wie bereits im Streichquartett (1979/80), Resonanzen alter Musik: Guillaume de Machauts “Lady de plour”, Ockeghems “Melhor me bat” und Josquins “Adieu mes amours” waren bereits in einer allerersten Fassung des Werkes vom Mai 1985 omnipräsent.
Die irrenden Resonanzen” sind Fragen, Fragen an den Hörer, eine direkte Herausforderung des Hörers im Wissen darum, dass der Irrtum unumgänglich ist. Oder, mit Ingeborg Bachmanns Worten:

Und irrt euch hundertmal,
Wie ich mich irrte und Proben nie bestand,
Doch hab ich sie bestanden, ein um das andere Mal.

1956 schrieb Ingeborg Bachmann über Maria Callas: “Sie hat nicht Rollen gesungen, sondern auf der Rasierklinge gelebt.”

„Hay que caminar“ soñando (1989)
2 Violini

„Hay que caminar“ sognando, für 2 Violinen enstand 1989 als letztes Werk Nonos. Das Stück steht in einer untergründigen Beziehung zum neun Jahre älteren Streichquartett. In beiden Werken verwandte Nono die „scala enigmatica“ aus Verdis „Quartetto pezzi sacri“. In der Partitur des Violinduos wurden die entsprechenden Töne von Nono extra gekennzeichnet; sie sollen von den Interpreten hervorgehoben und fast vibratolos gespielt werden. Als reine Insturmentalstücke bilden die beiden Werke aber auch eine Klammer um die Werkphase der achtziger Jahre, in denen Nono mit der Live-Elektronik des Freiburger Experimentalstudios arbeitete und sich intensiv mit Fragen des Raumklangs und der Klanganalyse befasste. „Hay que caminar“ sognando ist jedoch nicht einfach eine Rückkehr zur Instrumentalmusik. Die Erfahrungen mit der Live-Elektronik haben darin ihre tiefen Spuren hinterlassen. Auffällig ist das im Konzept des „wandernden Klangs“. Wurde dieser zuvor durch Klangrotation mit Hilfe der Lautsprecher erzeugt, so sind nun die Interpreten selbst wandernde Klangquellen. Denn die acht Partiturblätter sollen auf drei Pulte verteilt werden, die an verschiedenen Stellen im Konzertsaal aufgestellt sind. Die Reihenfolge und den Weg zwischen den Pulten haben die Ausführenden jeweils selbst zu bestimmen. Auch in der Mikrostruktur des Klangs haben sich Nonos Erfahrungen mit der Live-Elektronik niedergeschlagen – in den extremen Höhenlangen, der differenzierten Artikulation und der bis ins siebenfache Piano reichenden Lautstärkeskala. Beides, die subtile Beweglichkeit des Klangs und das Erforschen der Grenzbereiche des Menschlichen.
Max Nyffeler aus CD-Booklet d. Aufnahme Arditti Quartett 1989

Luigi Nono hinterlässt uns so auch ein kunstvoll gelungenes Gebäude aus solidem Fundament. Seine Musik führt uns in Erdbebengebiete der menschlichen Erfahrung, wo keine Gebäude sich halten können, weil deren Fundamente sich dort ständig verschieben und erschüttert werden, sodass allenfalls ungeheure Ruinen von denn Kräften Nachricht zu geben vermögen, die bei allen Unternehmungen und Konstruktionen des menschlichen Geistes auf dieser Erde so oder so das letzte Wort behalten werden.
Helmut Lachenmann aus „Musik als existenzielle Erfahrung“


Luigi Nono
Luigi Nono wurde 1924 in Venedig geboren. Seine Ausbildung zum Komponisten begleiteten zunächst die Komponisten Gian Francesco Malipiero und Bruno Maderna. In das Jahr 1948 fällt die Bekanntschaft mit Hermann Scherchen, der für ihn sowohl in musikalischer als auch in politischer Hinsicht besonders wichtig wurde. Durch Scherchen kam Nono 1952 zum ersten Mal nach Darmstadt, wo eine heftig diskutierte Aufführung seiner Variazioni canoniche sulla serie dell' op. 41 di Schönberg stattfand. Bis 1961 bleibt Nono Darmstadt verbunden, zunächst noch als Studierender, dann als Lehrender. 1952 ist er bereits Mitglied der Italienischen Kommunistischen Partei. 1954 lernte er bei einer konzertanten Aufführung von Schönbergs Oper Moses und Aron in Hamburg dessen Tochter Nuria kennen, die er ein Jahr darauf heiratete. Die Uraufführung der Kantate Il canto sospeso 1956 in Köln unter Scherchen brachte ihm den europäischen Durchbruch. Und 1961 formulierte er in seiner „azione scenica“ Intolleranza eine neuartige und wegweisende musikdramatische Konzeption, in der Bühnenbild, Bildprojektion, Musik und Raum eine komplexe Verbindung eingingen. Die 60er und 70er Jahre waren von politischem Engagement gekennzeichnet. Nono griff in die kulturpolitische Diskussion der Linken ein, diskutierte mit der Kommunistischen Partei Italiens, mit Arbeitern und Intellektuellen über seine Musik. Zusammenfassung dieser Aktivitäten wurde die zweite Oper „Al gran sole carico d’amore“, die 1975 an der Mailänder Scala uraufgeführt wurde. Zwischen 1975 und dem Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima (1979/80) entstanden nur wenige Werke. Das Streichquartett markiert eine wiederum mit extremen Reaktionen aufgenommene Zäsur und Wende in seinem Leben und Schaffen. In den Werken der folgenden Jahre treten andere Momente in den Vordergrund seines ästhetischen Interesses, am markantesten wohl verkörpert in dem zentralen Werk dieser späten Schaffensphase, in der „Tragedia dell’ ascolto“ Prometeo (1981-85). Luigi Nono war Mitglied der beiden Akademien der Künste Berlin, Fellow des Wissenschaftskollegs Berlin (1987) und Professor für Komposition an der Hochschule der Künste (1987/88). Er ist am 8. Mai 1990 in Venedig gestorben.






Als ich mit dem Regisseur Peter Konwitschny, dem Bühnenbildner Helmut Brade und dem Intendanten Albrecht Puhlmann als Dramaturg über mehrere Wochen Nono’s Oper „Al gran sole carico d’amore“ analysierte, entschieden wir uns, das Stück nicht museal zu
repräsentieren, sondern kritisch zu befragen. Sofort sprangen Funken aus der Musik, die uns alle erreichen und bis heute angehen.
In diesem Geist möchte ich Nonos Kammermusiken neu erarbeiten in der Hoffnung, dass ihre Botschaften entziffert und hörbar gemacht werden können.
Dies mit dem ensemble für neue musik zürich tun zu können, mit dem mich eine nun 20jährige Künstlerfreundschaft verbindet, ist eine grosse Freude!
Das Programm spannt einen Bogen von Nonos ersten bis zu seinen letzten Kompositionen und kontrastiert unverfremdeten Instrumentalklang mit live- elektronisch bearbeitetem. Zwei Duette stehen zwei gross besetzten Stücken gegenüber, „reine“ Musik der 50er Jahre der „suchenden“ aus Nonos letzten Lebensjahren- in der die „vielfältigen Echos“ widerklingen, von denen der Komponist sprach. Das aber gerade die intime Kammermusik auch eine gesellschaftliche Aussage trifft, war für mich bei der Arbeitsweise des ensemble für neue musik zürich immer spürbar und so wird es tatsächlich den Versuch geben, ein NEUES Bild des Komponisten zu entwerfen, hervorgehend einzig aus der Wahrheit seiner Partituren.
Johannes Harneit
20. Januar 2013
© ensemble für neue musik zürich, Gutstrasse 89, CH-8055 Zürich
T +41 (0)44 383 81 81, M +41 (0)79 207 55 92
info(at)ensemble.ch, www.ensemble.ch/archiv/?det_id=49/